Sonntag, 25. November 2012

Der Maler


(In Köln wird bis zum Ende des Jahres die sehr sehenswerte Ausstellung '1912 – Mission Moderne' gezeigt. Hier dazu das passende Gedicht.)


Der Maler

Jeden Morgen
vor dem Spiegel.
Dein müdes Gesicht
sieht, was Lippen
zwischen Bartstoppeln
lautlos formen:
„Wer bist du eigentlich und
was machst du hier?“

„Kunst“, antwortet die Stimme,
„ich mache hier Kunst.“

Höhnisch
grinst der im Spiegel:
„Kunst also meinst du -
brotlose Kunst,
würde ich sagen.
Oder ist da jemand,
den das interessiert,
was du hier machst?"

„Malen“, flüstert die Stimme
„ich muss malen.“

Verachtung
schwappt aus dem Spielgel.
„Malen, ach wirklich?
Hat denn schon mal
jemand ein Bild gekauft,
außer damals
dein Bruder
aus reinem Mitleid?“

„Maler“, bebt die Stimme,
„ich bin ein Maler.“

„Wahnsinn“,
schimpft der Spiegel.
„Keiner will es sehen,
keiner will es kaufen.
Dir fehlt Promotion.
Das mit dem Ohr
war ein guter Versuch -
hundert Jahre zu früh!“

„Maler!“, schreit die Stimme,
„ich bin Vincent, der Maler!“



Das Selbstportrait von Vincent van Goch kann man auf der Homepage des Walraf-Richartz-Museums in Köln anschauen:




Dienstag, 6. November 2012

Novemberbegegnung 2003


Eine kleine Gruppe Menschen
folgt beinahe schweigend
jener weißblauen Fahne
mit dem Davidstern
Die Luft ist lau
an diesem Abend
fast wie im Frühling
doch

Es ist November
Zeit auf die Straße zu gehen


Passanten auf der Straße
weichen zur Seite
überrascht erstaunt
oder starren Blicks
angesichts der Fahne
Vater Mutter Kind
Der Mann zischelt
Die sind hier alle
einfach krank

Es ist November
Zeit auf die Straße zu gehen


Leute alle Aua Weh
sagt die Kleine
laut und voll Mitleid
Psst sei still
versucht die Mutter
Doch noch lauter
aus dem Buggy
die Kinderstimme
Aua Weh

Es ist November
Zeit auf die Straße zu gehen


Du hast recht Kind
alle hier diese Menschen
haben Aua Weh
Schmerzen über Dinge
die vergangen scheinen
es aber nicht sind
solange vergessen wird
was niemand vergessen darf

Es ist November
Zeit auf die Straße zu gehen


Schmerzen Leiden Aua Weh
zu Millionen ermordet
Vater Mutter und Kind
verachtet vernichtet
zerschmettert erschlagen
Auch Kinder wie du
Das nicht zu vergessen
macht krank und tut weh

Es ist November
Zeit auf die Straße zu gehen


Doch in deinen Augen
das Mitleid mit uns tut gut
Mag dein Vater uns verachten
und deine Mutter versuchen
zu verdrängen verschweigen
Du sagst es laut und voll Schmerz
hast du dich vielleicht angesteckt
an unserem Aua Weh

Es ist November
Zeit auf die Straße zu gehen



(So erlebt in einer Stadt im Ruhrgebiet während eines Schweigemarsches zum Gedenken an die Reichsprogromnacht am 9. November)